Prosa

Den Raum erweitern, den Raum verändern. In Gedanken wandern, tatsächlich wandern. Straßen, Wege, Wälder erkunden. Berge versetzen, Berge verrücken, Berge dort lassen, wo sie sind. Das Ohr an Hauswände legen und horchen, was sie erzählen. Gärten sehen und beobachten, was blüht. Der Frühnebel, das Blau über den Häusern, wenn die Sonne ihr kräftiges Licht schickt. Das Blau der Galerie. Honsbergblau.
Eintauchen, abtauchen, bleiben, verweilen. Den Raum vereinnahmen, ihn begehen, in ihm wohnen, in ihm arbeiten. Bei Tag und bei Nacht. Stimmungen durchziehen lassen, schreiben. Fühlen, riechen, horchen.
Straßen, Wege, Häuser, Gärten, Menschen. Fernsehgewitter am Abend, beim Hineinschauen in die Fenster. Grünes, blaues, rotes Licht. Stimmengewirr hinter den Bildschirmen und Stimmen der Leute hinter den Fenstern. Was erzählen sie, was beschäftigt sie, worüber machen sie sich Gedanken?
Die Blumen in den Gärten verraten die Gedanken nicht. Sie blühen ihre eigene Sprache, leuchten, duften und zeigen, was sie können. Erde, Samen, Leben. Ein Kreislauf. Honsbergblau und kräftiges Gelb. Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling. Erweitern, erwandern, gehen, sehen, ertasten, begreifen.

(Vorwort zu der Erzählung Nach innen horchen im Rahmen des Kunst- und Literaturprojekts Den Raum erweitern. Die gleichnamige Wortperformance habe ich im September 2023 in den Räumlichkeiten der Ins Blaue-Art Gallery in Remscheid uraufgeführt.)

 

Nach innen horchen

Ankunft

Von Köln nach Remscheid mit dem Bus. An einem Morgen im September. Frühnebel legt sich in die Welt, spannt sich über den Rhein, über Wiesen und Felder, umwebt Hänge, Hügel, Häuser.

Nach einer Weile werden die Straßen enger, und die Landschaft beschließt bergig zu sein. Dörfer, Windungen, Fachwerk. Der Bus ist ein geduldiges, großes Tier, das seinen Inhalt an Ort und Stelle trägt. Auf der Strecke gibt es viele Haltepunkte, an denen das Tier sein klaffendes Maul öffnet und einen Teil seines Inhalts hinauslässt.

Am Bahnhof Remscheid ist Endstation. Dort öffnet das Tier ein letztes Mal sein Maul und spuckt den Rest aus, der noch in seinem Innern steckt. Unverdaut stolpere ich hinaus. Durchgeschüttelt und etwas benommen von dem Auf und Ab durch Berg und Tal schaue ich mich um: ein weiter Platz, löchriger Asphalt. Die andere Seite des Platzes bietet einen Taxistand. Dort wartet ein einziges beigefarbenes Auto. Ich laufe darauf zu und bitte den Fahrer nach kurzer Begrüßung, mich Richtung Honsberg zu bringen. „In die Siemensstraße“, ergänze ich. Der Fahrer nickt und stellt mein Gepäck in den Kofferraum. Schwungvoll lenkt er den Wagen durch verschlungene, verwunschene Straßen, an kleinen Bauerngärten vorbei bis ans Ziel.

Er hält vor einer Galerie auf deren Außenfassade „Ins Blaue“ geschrieben steht. In großen Lettern, lesbar und deutlich. Ich strecke dem Fahrer einen Schein entgegen. Er bedankt sich höflich, wendet den Wagen, fährt mit leise quietschenden Reifen die Straße hinunter, biegt ab, verschwindet.

Mein Gepäck steht auf dem Gehsteig. Der erste Teil meiner Reise. Eine Reise ins Bergische Land, eine Reise in eine Stadt, die ich noch nicht kenne, eine Reise in eine Umgebung, die ich in Worten verändern und erweitern will.  Hier bin ich also Artistin in Residence. In einer der Künstler:innenwohnungen, die zur Galerie gehören. Hier werde ich eintauchen, abtauchen, schreiben. Werde mir den Raum ertasten, erarbeiten, erwandern, Straße für Straße, Haus für Haus, Seite für Seite.

 

Wohnung

Schlafzimmer, Küche, Bad, Flur. Es ist Nachmittag, der Nebel gewichen. Klares, kräftiges Blau liegt über den Dächern der Häuser. In der Küche wohnt bereits herbstlicher Schatten. Abschüssig der Garten unterm Fenster. Das Schlafzimmer ist von wärmendem Gelb durchdrungen, winzige Staubkörner tanzen in der Mitte des Raumes. Es riecht kühl und feucht. Das kommt von den Wänden. Arbeiterhaus. Ich richte mich ein, leere die Reisetasche, lege meine Kleider in einen Schrank. Frische Bettwäsche liegt bereit. Arbeiten in einem Arbeiterhaus. Schreiben, Worte spinnen, Gedankenfäden knüpfen. Spinne, Käfer, Biene. Fleißige Arbeiterin.

Niste mich ein, lenke meine Sinne ins Innere dieser vier Wände und taste meinen Platz, den Platz, an dem ich schreibe. Küche oder Schlafzimmer? Manchmal suche ich das Licht, das mich freundlich umgibt, mir schmeichelt, die Worte zuspielt. Dann wieder suche ich die dunklen Ecken, die Dämmerung, in der die Konturen ineinanderlaufen, die Gedanken verschwimmen lassen und ungeahnte Räume öffnen. Der Computer schluckt die Worte, schlingt Sätze. Ich lösche mehr, als ich schreibe. Und im Laufe der Zeit entsteht eine Geschichte, ein Gartengedankenspiel, eine glühende Bergwelt, Fernsehgewitter in Arbeiterhäusern am Abend, Blauluftgespinste, Wolkenhunde.

In der Küche riecht es nach Toast und Kaffee. Der Morgen ist satt und sonnig. Fällt herein, als wäre es nie anders gewesen. Der Garten unterhalb zeigt, was er kann, bevor der Winter kommt. In meinem Innern blüht die Welt, blüht der Herbst. Es zieht mich raus, zieht mich in die Landschaft. Heute erzähle ich von den Hängen, den Bergen und den Häusern. Nach dem Frühstück. Kaffee, Toast, Butter, Honig, ein weiches Ei.

 

Wanderung

Wiesen, Wege, Straßen. Ziehen sich wie Schläuche um die Häuser. Asphalt und Krater. Schiefer. Alte Rosen blühen wildes Lila, bevor die Hagebutten kommen. Die Sonne steigt höher, zieht ihre Runde. Die Jacke habe ich im Rucksack verstaut. Spätsommerwarm ruht die Landschaft am rechten Fleck. Beschützt von der Erde ahnt sie nichts von ihrer Verletzlichkeit. Die Sonnenblumenfelder in Kenia würden etwas anderes erzählen, wenn sie reden könnten. Die Natur spricht eine Sprache, deren Vielfältigkeit wir nicht verstehen wollen. Kenia rückt näher, sehr nah, wenn bei uns das Gras im Mai bereits gelb ist. Ein fahles, trockenes Gelb. Das satte Gelb der Dotterblumen wird schon bald Erinnerung sein. Kenia ist weit weg, denke ich, und bin nicht beruhigt.

Der Weg führt an einer Gaststätte vorbei. Hunger treibt mich ins Innere des Lokals. Ich bestelle Bratkartoffeln mit Spiegelei und ein kühles Mineralwasser. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Küche Mittagspause macht.

Der Nachmittag spinnt dunstiges Licht über die Wege. Die Luft wird klamm. Ich wandere mit der Sonne und gegen die Müdigkeit, bis ich irgendwann wieder vor der Tür der Künstler:innenwohnung stehe. Ich drehe den Schlüssel hin und her. Die Tür springt auf, schwingt leicht und macht ein leises, kratziges Geräusch.

In Gedanken pflücke ich einen großen Blumenstrauß der Erinnerung und stelle ihn in aufs Fensterbrett in der Küche. Die Dotterblumen leuchten. Ich sehe rüber zu den Ateliers. Dort finden sich gerade die Musiker:innen ein, die heute Abend auftreten.

 

Atelierhäuser

Feuer in der Tonne. Ich hole mir ein Bier und setze mich neben Werner. Die Möbel aus Paletten sind eine gute Erfindung. Flaschen klacken aneinander. Punkrock. Ein Mädel mit langem, blassblondem Haar spielt Bass. Es wird dunkel, Funken sprühen aus der Tonne, steigen höher. Ein weiteres Bier und noch eins. Die Band wird lauter. Grasidyll. Der Abend verabschiedet sich und rauscht sich in die späteren Stunden. Begleitet vom Mond bricht die Nacht herein. Der Himmel streut Sterne aus.

Als die Band nach mehreren Zugaben aufhört zu spielen, ist das Feuer erloschen. Ab und zu ein letztes Glimmen in der Tonne. Ich nehme meine Jacke und gehe, lege mich hin und schlafe nicht ein. So viel ist im Kopf, so viel. Der Tag und die Nacht, die Wohnung, das wilde Lila der Rosen, die terrassenförmig angelegten Häuser. Das Bergische Land. Remscheid, Solingen, Wuppertal. Ein winzig kleiner Kosmos und doch Teil des großen Ganzen, des Universums, angebunden an die Meere, Seen und Flüsse. Den Raum erweitern, verändern und ihn so nehmen wie er ist. Die alte und die neue Substanz. Menschen, Generationen, Häuser, Gerüche und Gewohnheiten. Ich drehe mich auf die Seite.

Noch bevor es hell wird, schlafe ich ein.

 

Regentag

Der Himmel regnet durchsichtige Fäden, die sich zu einer Gardine verdichten. Die Blumen der Erinnerung welken, das Dottergelb verblasst. Ich trinke Kaffee und schreibe wenig. Die Wohnung ist feucht und kühl. Ich suche mein Schneckenhaus und finde es im Schlafzimmer, krieche hinein, mache mich von innen zu. An der Wand hängt eine Thermostatuhr. Wenn es still ist, wird das Ticken ganz laut. In der Nacht ist es still. Jetzt ist es auch still. Ein gleichmäßiges Geräusch. Die Gardine hält sich, ich kann sie nicht über die Dächer in den Himmel schieben.

Schneckenhaus, Arbeiterhaus, Gehäuse, Nest, Versteck. Wo gehöre ich hin? In welchen Raum, in welches Haus passe ich hinein? Wieder und wieder suche ich die dunklen Ecken des Zimmers und warte so lang, bis die Sonne über die Dächer kriecht, bis der Himmel das kräftige, klare Blau zulässt und über die Häuser verströmt.

Gegen Mittag werden die Fäden dünner, ich sehe sie kaum noch hinter dem Fenster. Die Wolken werden blasser, bilden eine Pudelform. Ich verlasse mein Schneckenhaus.

Die grünen Kacheln im Bad leuchten matt. Über dem Spiegel hängt ein zierliches Geweih, das dem unregelmäßigen Tropfen des Wasserhahns lauscht, ob es will oder nicht. Die Badewanne lädt mich ein. Das ist Kindheit. Meere, Ozeane. Das Wasser spült die dunklen Zimmerecken fort, reinigt, was sich schwer macht in mir, in diesem Haus, in der Welt. Die Haut wird dünn, ich weiche auf, lasse die Fluten kommen und gehen. Und als ich später den Stöpsel ziehe, reißen sie all das Dunkle und Lähmende in einem Strudel mit sich, bis die Wanne leer ist. Zurück bleiben ein wenig Schaum und die Ahnung eines erfrischten Geistes, noch bevor die Blumen der Erinnerung erneut aufblühen. Erstes Dottergelb erwacht hinter dem Schornstein gegenüber.

 

Orte

I

Laufe die Straßen rauf und runter und wieder rauf. Ein Hund bellt irgendwo weiter weg. Dunst fällt an den Häusern herunter, der Tag hat gerade begonnen. Noch ist die Welt unberührt. Wie der erste Schnee, der in der Nacht fällt.

Fuchs und Hase, Hase und Fuchs. Ich habe plötzlich Sehnsucht nach Orten, an denen sich die Tiere noch guten Morgen sagen oder gute Nacht. Was treibt diesen Gedanken in mich hinein? Vielleicht ist es diese beinahe heilige Ruhe, die mich umgibt.

Ich atme ein, atme aus, finde meinen Rhythmus und im Innern entsteht ein Lied. Ich summe die Melodie leise vor mich hin, bis ich unvermittelt vor einer weitgeöffneten Tür stehe. Dahinter erstreckt sich ein hoher, weiter Raum. Ich gehe hinein und sehe, dass der Raum aus seinen Mauern hinauswächst. Die Wände rücken auseinander, die Decke erhebt sich zu einem mächtigen Gewölbe, wie man es aus Kathedralen kennt. Schmale Scharten bilden sich zu großflächigen Fenstern heraus. Buntes Glas mit verspieltem Muster wird sichtbar. Ich verstehe nicht, was geschieht. Staunend, ängstlich, bewundernd blicke ich um mich. Plötzlich höre ich die Melodie, obwohl ich sie gar nicht mehr selbst summe. Ich will einstimmen und spüre, dass ich zunächst keinen Ton herausbekomme. Für einen Moment bin ich stumm. Es dauert eine Weile, dann finde ich den Ansatz wieder. Jetzt begreife ich, dass die Melodie von unzähligen Stimmen getragen wird. Ein Schwingen und Brausen erhebt sich bis unter das Gewölbe und formt sich zu einem choralhaften Gesang. Der Raum ist gefüllt mit Menschen, die durch die weitgeöffnete Tür hineinströmen. Eine Traube hat sich gebildet, die immer größer wird. Der Gesang hält an, wandelt sich in Worte, wird zum Gebet. Zu einem Gebet für die Opfer und die Held:innen auf dieser Erde, zu einem Gebet für die Lebenden und für die, die gegangen sind, für Kinder, für Eltern, für alte und junge, für schwache und starke, für kranke und gesunde Menschen, für alle. Der Tag weicht der Nacht, die Nacht geht über in den Morgen. Es wird Tag und es wird Nacht. Das Gebet verhallt nicht. Verklingt eine Stimme, wächst eine andere nach, über Honsberg hinaus in die Welt. Fortwährend. Allumfassend. Für den Frieden. Das ewige Gebet, so wie das ewige Licht in der Kirche, in der Moschee, in der Synagoge.

II

Stehe vor der Konditorei, die es seit vielen Jahren nicht mehr gibt. Sehe noch die Backwaren in der Auslage. Sahnetorten, Obstkuchen, Mandelgebäck, Baiser. Tortenspitze, verspielte Muster, Kaffeeduft. Linoleumboden und braungelbe Blumenkacheln hinter der Theke. Die Tür macht ein zartes Klingelgeräusch beim Öffnen und Schließen.

In der Hand halte ich eine Tüte mit frischen Brötchen. Gleich Frühstück bereiten. Ein Stück Pfirsichtorte am Nachmittag.

Erstes Laub knistert durch die Straßen. Der Spätsommer streift ab, was er nicht mehr braucht. Herbstfrohlocken, Rauschen in den Bäumen, Brausen unter den hauchdünnen Perlmuttwolken, Vorahnung der kräftigen Stürme. Meine Nasenflügel zittern. Ich will hineinlassen, was ist und was kommt. Finde mich ein in den Blätterwirbel, laufe Slalom. Die Brötchen hüpfen in der Tüte. Dann die Stufen hoch, ich drehe den Schlüssel hin und her. Das Geräusch ist wieder da, kratzig.

Frühstücken, lüften, den Computer hochfahren. Sitzen, lauschen, hinausschauen, schreiben, innehalten. Im Zimmer herumgehen, wieder schreiben. Bis die Sonne hinter die Häuser fällt. Pfirsichtorte essen, lesen, in mich hineinhorchen, noch mal lesen, den Computer herunterfahren.

Sätze bauen, Sätze umstellen, verwerfen. Zeilen zusammenfügen, auseinanderpflücken, neu aneinandersetzen. Tagein, tagaus. Über zwei Jahrzehnte und mehr. Lebenswerk. Glück, Hemmnis, Überzeugung, Zweifel, Leben, Überleben.

Ich falle ins Bett, die Thermostatuhr tickt laut.

III

In der Küche hat sich ein Geschirrberg gebildet, eine kleine Baustelle. Morgen früh werde ich sie wegräumen. Im Augenblick kann ich mich nicht dazu überwinden. Die Dämmerung lockt mich nach draußen, eine violette Färbung liegt über dem abschüssigen Garten.

Heute hat das „Martinseck“ geöffnet. Eine der wenigen Gaststätten, die geblieben sind.

Schummriges Licht schwappt mir entgegen, ein freundlicher Wirt empfängt mich. Zwei Männer haben sich an der Theke eingerichtet. Vor ihnen steht Bier und Korn. An einem Tisch im hinteren Teil des Raumes sitzen Frauen, die Skat spielen. Ich finde einen Platz neben der Tür. Werfe einen Blick in die Karte, und als der Wirt an meinen Tisch kommt, bestelle ich Currywurst mit Pommes, dazu ein Alt.

Geisteswindungen, Hirnsausen, Buchstabensummen. Jetzt hat die Arbeiterin frei und schwärmt aus. Sammelt Gedankennektar für den letzten Tag. Eine deftige Mahlzeit tut gut. Ich bestelle ein weiteres Alt, dann bezahle ich.

Es ist bereits dunkel. Laternen stehen vereinzelt, werfen schwachgelbes Licht. Ich spaziere die Straßen rauf und runter. Abendliche Runde. Die Currywurst schaukelt im Bauch.

Artistin in Residence, Arbeiter:innenpalast. Bevor ich die Stufen zur Wohnung noch einmal hochlaufe, sage ich Hase und Fuchs gute Nacht.

 

Rückfahrt

Die Tage in der Künstler: innenwohnung sind eine Reise ins Innere, ins Selbst, in mein Haus. Ich finde mich in allen Sinnen beim Schreiben, beim Eintauchen in die Worte, beim Tieftauchen in die Gedankenseen.

Ich reise gern wahrhaftig in die Welt, verzweige mich in nahe und ferne Länder, verlasse den Kontinent, um zurückzukehren nach Europa.

Die Reise ins Innere, die Reise zu mir selbst ist vielleicht die längste, die weiteste, erfülllendste und zuweilen anstrengendste, die ich je gemacht habe. Und ich bin noch nicht angekommen, bin unterwegs. Taste, greife, finde, verliere, suche, staune, weine, balle die Fäuste und reise weiter. Weiter durch die Erzählungen, Geschichten, Tagebuchaufzeichnungen, Landschaftsbeschreibungen, verwoben mit dem Ich, mit dem, was ich bin, was ich sein will und was ich tue.

Der Asphalt ist löchrig. Ich steige in das große, geduldige Tier zurück nach Köln. Auf der Severinsbrücke blitzen mir feierlich die Lichter der Stadt entgegen. Sie hat bereits auf mich gewartet. Ich bin eine Erscheinung, eine Persönlichkeit, für die ein festlicher Empfang bereitet wird. Der Rhein, schwarzer, starker Strom. Bin wieder da, bin zu Hause.

In Gedanken, im Innern wohne ich noch in den dunklen Ecken und dem hellen, unverstellten Licht, das durchs Küchenfenster mitten in den Raum fällt.

 

Der innere Weg

Ich bin in der Wohnung und schaue dem Regen zu, stundenlang. Er knallt auf das Gehsteigpflaster. Alon ist für ein paar Tage mit einem Freund in die Berge gefahren. Ich öffne das Fenster und strecke den Arm raus. Ich könnte den Regen fotografieren oder malen, ich könnte ihn auf Tonband aufnehmen, damit ich ihn immer hören kann. Ich stehe eine Weile an dem großen Fenster und denke an Männer, die ich gerade nicht brauche und doch gern hätte. Irgend etwas treibt mich, ich weiß nicht, was. Ich möchte großartig sein und wild und in der Kunst etwas schaffen, das mir bisher niemand vorgemacht hat. Was genau, weiß ich noch nicht. Der Wille ist da, das Material noch längst nicht bestimmt. Ich will die erste sein und einzig. Die Leute sollen Schlange stehen für mich, wo auch immer das ist. Manchmal bin ich traurig, dass Robert Mapplethorpe schon lang tot ist und dass ich sein Grab nie gesehen habe.

Mich überkommt die Lust, Dinge anzuziehen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr getragen habe, krame Ringe hervor, lege mir Ketten aus Kunststoffperlen um den Hals, kurze, lange. Dann gehe ich vor die Tür. Es regnet immer noch. Autos fahren dicht an mir vorbei, Wasser spritzt. Ich lasse mich völlig durchnässen und finde mich schön dabei. In der Überhöhung werde ich mich finden, nach dem Fall. Es gibt nur blendend weißes Licht oder tiefes Schwarz. Keine Nuancen. Ich kann mich von außen sehen und fühle mich nah an mir. Wie grün sind die Berge, auf die ich täglich blicke, wenn der Regen aufgehört hat, wie dicht bewaldet sind die Hänge in meinem Inneren? Eines Tages werde ich das Leben wie durch einen Kristall sehen. Klar und hell. Vorher werde ich Gott und Teufel suchen, um herauszufinden, wer der eine und wer der andere ist.

Ich laufe zur Brücke. Der Asphalt hat eine raue Oberfläche, die sich leicht klebrig anfühlt unter den Schuhen. Ein plötzlicher Wind schlägt mir entgegen, es ist fast dunkel. Die Brücke ist angestrahlt. Die bogenfömigen Eisenstangen sehen aus wie ein Feuerrad unter dem matten Himmel. Von den Laternen fallen Lichtkreise ins Wasser, schaukeln auf der Oberfläche, fließen tänzelnd ineinander und verschmelzen zu großen gelben Flecken, die vom Uferrand wegzucken und flussabwärts treiben. Ich setze mich ans Wasser, mache die Augen zu und schwimme in die Flecken hinein. Ich löse mich darin auf, tauche tiefer, bin Wasser, ganz Wasser, verströme mich in die großen Meere, suche nach mir, taste, greife und finde die Nacht. Als ich irgendwann wieder an die Oberfläche tauche, schmerzt das Licht der Laternen für einen Moment in den Augen. Ich steige aus den zuckenden Flecken. Wo finde ich Gott, wo ist Teufel? Ich werde die gläserne Kugel befragen, die ich neulich in dem Laden an der Ecke gesehen habe. Ein kleines Geschäft mit eigentümlichen Geräten für Magier und Wahrsager. Die Kugel kann in allen Farben schillern und je nachdem, wie das Licht einfällt, kann sie Formen und Muster bilden. Das Zusammenspiel von Farbe und Muster verrät mir, wer ich bin und worin meine Bestimmung liegt. Der Regen lässt nach. Ich finde mich immer noch schön und merke die feuchte Luft auf den Wangen.

Zu Hause ziehe ich die nassen Klamotten aus und dusche so lang, bis kein warmes Wasser mehr da ist. Später setze ich mich an den Zeichentisch unter dem großen Fenster. Ich nehme den Stift und drehe ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Ich warte auf den ersten, den zweiten, den dritten Strich und auf das unglaubliche, wahnhafte Gefühl, das Besitz von mir ergreift, wenn sich eine Zeichnung oder ein Gemälde verselbständigt. Ich warte auf den Rausch, den Exzess, der mich befällt, wenn ich eine Arbeit vollende. Ich warte und gerade passiert nichts. Ich blicke auf das Papier, das vor mir liegt, wie ein nicht erfüllter Wunsch. Ein Kind, das weint, weil die Mutter das Rufen nicht hört. Ich fühle mich schuldig und merke ein Ziehen im Magen.

Die Morgendämmerung fällt vom Himmel und fließt hellrosa aufs Fensterbrett. Ein Hauch Orange legt sich um die Häuser gegenüber. Das sind die Farben vor dem Leben auf der Straße. Ich lasse den Stift sinken und lege mich hin.

Ich sehe die Kugel, fühle, wie die Verkäuferin sie sanft über meine Handinnenfläche gleiten lässt. Ein gurgelndes Rollen.
„Das ist ihr Geheimnis“, sagt sie mit polnischem Akzent. Sie spricht leise und fest.

Es ist früher Nachmittag, als ich aufstehe. Die Berge leuchten smaragdgrün nach dem Regen. In den Straßen steigt weißer Dampf empor. Alon ruft an und erzählt begeistert von der Wanderung, von seinem Freund, der neue Drogen ausprobiert hat, um noch leistungsfähiger zu werden für irgendwelche Extremtouren, die sie noch vorhaben. Er spricht schnell und aufgeregt, redet von Hängen und Felsspalten. Ich höre nicht richtig zu, sage etwas zu der Zeichnung, die nicht entstehen will, spreche von dem unerfüllten Wunsch und dem weinenden Kind. Er bedauert übertrieben. Schließlich beende ich das Gespräch, stelle Wasser für den Kaffee auf. Das weinende Kind hat blondes, gelocktes Haar, Sommersprossen und ein rotes Gesicht. Vielleicht ist es zwei Jahre alt. Lasse ich mich provozieren, was hat das Kind mit der Zeichnung zu tun? Ich kenne kein Kind, das so aussieht. Ich trinke die letzten Schlucke Kaffee, stecke die Klamotten vom Vortag in die Waschmaschine und lege die Kunststoffperlenketten, die noch auf dem Boden liegen, zurück in die Schublade.

Später gehe ich in das Geschäft an der Ecke. Die Verkäuferin legt mir die Kugel in die gewölbte Hand. Die Kugel beginnt zu drehen und zu kreiseln, erst langsam, dann immer schneller, bis sie irgendwann wieder ruhig in der Hand liegt. Eine silberne Nadel an der Glasoberfläche weist mir die Himmelsrichtung Südost und bildet ein feinliniertes Muster aus. Winzig kleine unzählige Dreiecke laufen ineinander und wachsen in das Glas hinein. Dunkles Violett entsteht.
„Die Dreiecke stehen für das Gegensätzliche in Ihnen und der Welt“, erklärt die Verkäuferin. „Die Farbe Violett wird Ihnen den Weg zeigen.“ Die Verkäuferin lacht.
„Die Kugel weiß, wer Sie sind.“

Auch ich lache. Ich verstehe nicht, was da geschieht. Ich drücke die Kugel fest gegen die Brust, genau an die Stelle, die man Sonnengeflecht nennt. Ich bezahle und laufe los. Vielleicht nach Prag oder bis New York. Die Verkäuferin schaut mir hinterher und winkt. Soll Alon doch von der Bergspitze direkt in die Sonne fliegen. Ich werde alle Archive und Museen in New York durchkämmen, mir die Fotografien von Robert Mapplethorpe genau ansehen, sie mit dem inneren Auge auseinandernehmen und wieder zusammenfügen, ich werde die einzelnen Schaffensphasen durchleben, von den filigranen Blumenaufnahmen bis hin zu den homoerotischen Fotografien um darin die Gegensätze zu erkennen, die ich immer finden wollte und um später klar aus ihnen hervorzugehen. Ich werde mich hingeben, mich ganz in mir selbst auflösen, bis zur tiefsten Ohnmacht. Dann werde ich mich neu erschaffen. Ich selbst werde Kunstwerk sein. Gemälde, Assemblage, Fotografie, Sinnbild, Schriftzeichen. Ich werde fliegen und fallen, hinauf- und hinabstürzen. Ich werde wandern, innerlich wandern, bis ich irgendwann die richtige Höhe erreicht habe. Dann werde ich innehalten und mich umschauen.

Die Zeichnung liegt vor mir auf dem Tisch, breitet sich aus, wächst in den Raum. Das Kind weint nicht. Der Himmel leuchtet rot.