Prosa

Der innere Weg

Ich bin in der Wohnung und schaue dem Regen zu, stundenlang. Er knallt auf das Gehsteigpflaster. Alon ist für ein paar Tage mit einem Freund in die Berge gefahren. Ich öffne das Fenster und strecke den Arm raus. Ich könnte den Regen fotografieren oder malen, ich könnte ihn auf Tonband aufnehmen, damit ich ihn immer hören kann. Ich stehe eine Weile an dem großen Fenster und denke an Männer, die ich gerade nicht brauche und doch gern hätte. Irgend etwas treibt mich, ich weiß nicht, was. Ich möchte großartig sein und wild und in der Kunst etwas schaffen, das mir bisher niemand vorgemacht hat. Was genau, weiß ich noch nicht. Der Wille ist da, das Material noch längst nicht bestimmt. Ich will die erste sein und einzig. Die Leute sollen Schlange stehen für mich, wo auch immer das ist. Manchmal bin ich traurig, dass Robert Mapplethorpe schon lang tot ist und dass ich sein Grab nie gesehen habe.

Mich überkommt die Lust, Dinge anzuziehen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr getragen habe, krame Ringe hervor, lege mir Ketten aus Kunststoffperlen um den Hals, kurze, lange. Dann gehe ich vor die Tür. Es regnet immer noch. Autos fahren dicht an mir vorbei, Wasser spritzt. Ich lasse mich völlig durchnässen und finde mich schön dabei. In der Überhöhung werde ich mich finden, nach dem Fall. Es gibt nur blendend weißes Licht oder tiefes Schwarz. Keine Nuancen. Ich kann mich von außen sehen und fühle mich nah an mir. Wie grün sind die Berge, auf die ich täglich blicke, wenn der Regen aufgehört hat, wie dicht bewaldet sind die Hänge in meinem Inneren? Eines Tages werde ich das Leben wie durch einen Kristall sehen. Klar und hell. Vorher werde ich Gott und Teufel suchen, um herauszufinden, wer der eine und wer der andere ist.

Ich laufe zur Brücke. Der Asphalt hat eine raue Oberfläche, die sich leicht klebrig anfühlt unter den Schuhen. Ein plötzlicher Wind schlägt mir entgegen, es ist fast dunkel. Die Brücke ist angestrahlt. Die bogenfömigen Eisenstangen sehen aus wie ein Feuerrad unter dem matten Himmel. Von den Laternen fallen Lichtkreise ins Wasser, schaukeln auf der Oberfläche, fließen tänzelnd ineinander und verschmelzen zu großen gelben Flecken, die vom Uferrand wegzucken und flussabwärts treiben. Ich setze mich ans Wasser, mache die Augen zu und schwimme in die Flecken hinein. Ich löse mich darin auf, tauche tiefer, bin Wasser, ganz Wasser, verströme mich in die großen Meere, suche nach mir, taste, greife und finde die Nacht. Als ich irgendwann wieder an die Oberfläche tauche, schmerzt das Licht der Laternen für einen Moment in den Augen. Ich steige aus den zuckenden Flecken. Wo finde ich Gott, wo ist Teufel? Ich werde die gläserne Kugel befragen, die ich neulich in dem Laden an der Ecke gesehen habe. Ein kleines Geschäft mit eigentümlichen Geräten für Magier und Wahrsager. Die Kugel kann in allen Farben schillern und je nachdem, wie das Licht einfällt, kann sie Formen und Muster bilden. Das Zusammenspiel von Farbe und Muster verrät mir, wer ich bin und worin meine Bestimmung liegt. Der Regen lässt nach. Ich finde mich immer noch schön und merke die feuchte Luft auf den Wangen.

Zu Hause ziehe ich die nassen Klamotten aus und dusche so lang, bis kein warmes Wasser mehr da ist. Später setze ich mich an den Zeichentisch unter dem großen Fenster. Ich nehme den Stift und drehe ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Ich warte auf den ersten, den zweiten, den dritten Strich und auf das unglaubliche, wahnhafte Gefühl, das Besitz von mir ergreift, wenn sich eine Zeichnung oder ein Gemälde verselbständigt. Ich warte auf den Rausch, den Exzess, der mich befällt, wenn ich eine Arbeit vollende. Ich warte und gerade passiert nichts. Ich blicke auf das Papier, das vor mir liegt, wie ein nicht erfüllter Wunsch. Ein Kind, das weint, weil die Mutter das Rufen nicht hört. Ich fühle mich schuldig und merke ein Ziehen im Magen.

Die Morgendämmerung fällt vom Himmel und fließt hellrosa aufs Fensterbrett. Ein Hauch Orange legt sich um die Häuser gegenüber. Das sind die Farben vor dem Leben auf der Straße. Ich lasse den Stift sinken und lege mich hin.

Ich sehe die Kugel, fühle, wie die Verkäuferin sie sanft über meine Handinnenfläche gleiten lässt. Ein gurgelndes Rollen.
„Das ist ihr Geheimnis“, sagt sie mit polnischem Akzent. Sie spricht leise und fest.

Es ist früher Nachmittag, als ich aufstehe. Die Berge leuchten smaragdgrün nach dem Regen. In den Straßen steigt weißer Dampf empor. Alon ruft an und erzählt begeistert von der Wanderung, von seinem Freund, der neue Drogen ausprobiert hat, um noch leistungsfähiger zu werden für irgendwelche Extremtouren, die sie noch vorhaben. Er spricht schnell und aufgeregt, redet von Hängen und Felsspalten. Ich höre nicht richtig zu, sage etwas zu der Zeichnung, die nicht entstehen will, spreche von dem unerfüllten Wunsch und dem weinenden Kind. Er bedauert übertrieben. Schließlich beende ich das Gespräch, stelle Wasser für den Kaffee auf. Das weinende Kind hat blondes, gelocktes Haar, Sommersprossen und ein rotes Gesicht. Vielleicht ist es zwei Jahre alt. Lasse ich mich provozieren, was hat das Kind mit der Zeichnung zu tun? Ich kenne kein Kind, das so aussieht. Ich trinke die letzten Schlucke Kaffee, stecke die Klamotten vom Vortag in die Waschmaschine und lege die Kunststoffperlenketten, die noch auf dem Boden liegen, zurück in die Schublade.

Später gehe ich in das Geschäft an der Ecke. Die Verkäuferin legt mir die Kugel in die gewölbte Hand. Die Kugel beginnt zu drehen und zu kreiseln, erst langsam, dann immer schneller, bis sie irgendwann wieder ruhig in der Hand liegt. Eine silberne Nadel an der Glasoberfläche weist mir die Himmelsrichtung Südost und bildet ein feinliniertes Muster aus. Winzig kleine unzählige Dreiecke laufen ineinander und wachsen in das Glas hinein. Dunkles Violett entsteht.
„Die Dreiecke stehen für das Gegensätzliche in Ihnen und der Welt“, erklärt die Verkäuferin. „Die Farbe Violett wird Ihnen den Weg zeigen.“ Die Verkäuferin lacht.
„Die Kugel weiß, wer Sie sind.“

Auch ich lache. Ich verstehe nicht, was da geschieht. Ich drücke die Kugel fest gegen die Brust, genau an die Stelle, die man Sonnengeflecht nennt. Ich bezahle und laufe los. Vielleicht nach Prag oder bis New York. Die Verkäuferin schaut mir hinterher und winkt. Soll Alon doch von der Bergspitze direkt in die Sonne fliegen. Ich werde alle Archive und Museen in New York durchkämmen, mir die Fotografien von Robert Mapplethorpe genau ansehen, sie mit dem inneren Auge auseinandernehmen und wieder zusammenfügen, ich werde die einzelnen Schaffensphasen durchleben, von den filigranen Blumenaufnahmen bis hin zu den homoerotischen Fotografien um darin die Gegensätze zu erkennen, die ich immer finden wollte und um später klar aus ihnen hervorzugehen. Ich werde mich hingeben, mich ganz in mir selbst auflösen, bis zur tiefsten Ohnmacht. Dann werde ich mich neu erschaffen. Ich selbst werde Kunstwerk sein. Gemälde, Assemblage, Fotografie, Sinnbild, Schriftzeichen. Ich werde fliegen und fallen, hinauf- und hinabstürzen. Ich werde wandern, innerlich wandern, bis ich irgendwann die richtige Höhe erreicht habe. Dann werde ich innehalten und mich umschauen.

Die Zeichnung liegt vor mir auf dem Tisch, breitet sich aus, wächst in den Raum. Das Kind weint nicht. Der Himmel leuchtet rot.

Elenoschkaija

Ich mochte die Art wie er unterm Auto lag, stundenlang, irgendwas reparierte, keuchte und dann wieder ins Haus kam, nach Öl riechend und Schweiß, sich in der Küche an den Tisch setzte, eine Zigarette rauchte und schwieg. Nach einer Weile würde er fragen, ob noch Kaffee da sei, und ich würde ihm eingießen. Ich fühlte mich nicht verpflichtet.

Das Haus lag an einem waldigen Hang, er verbrachte viel Zeit dort, ich besuchte ihn ab und zu, blieb ein paar Wochen und fuhr wieder.

Abends saßen wir lange beieinander, zündeten Kerzen an und stellten sie in die hohen Fenster. Der Schein des Lichtes spiegelte sich darin, bizarre Schatten tanzten im Raum. Er hatte eine belebende, unbekümmerte Art, sich an solchen Momenten zu freuen, das sei das, wofür er lebe, sagte er. Am nächsten Tag lag er wieder unterm Auto.

Es war die Kombination zweier Dinge, die eigentlich gar nicht zueinander passen und irgendwie doch passen, es war der Wald und die Luft und der Frühnebel, der sich irgendwann auflöste. Ich weiß nicht, was es war. Der Geruch des Hauses ist mir nie fremd gewesen. Es roch frisch und nach Kernseife, sauber roch es. Zwischendurch wanderte ich durch alle Räume, fasste nichts an, weil mir nichts gehörte, betrachtete aufmerksam die Gegenstände in jedem Zimmer, besonders die Öfen, mit denen geheizt wurde.

Manchmal gingen wir spät aus. Er löschte das Kerzenlicht, wir liefen den Hang hinunter und besuchten die Gaststätten im Tal, rauchten, tranken Bier und Schnaps, wir blieben so lange sitzen, bis der Wirt uns bat, zu gehen, weil das Lokal schließe um diese Zeit. Wir liefen in die Nacht und in die Wälder, bis es Morgen wurde und wieder hell. Wir schliefen den ganzen Tag oder dösten, lagen in einem Bett und standen erst auf als sich ein blaues Licht über den waldigen Hügel legte.

Ich ging hinunter in die Küche, um Wasser aufzustellen für den Kaffee, den wir später trinken würden als sonst. Er folgte mir, setzte sich. Ich brühte den Kaffee auf, goss ein, er dampfte. Seine Hände lagen gefaltet auf dem Tisch. Ich blickte in die Tasse, kippte Milch hinzu und beobachtete wie sich beide Flüssigkeiten schlierenartig miteinander verbanden, dann rührte ich um. Er nahm Zucker, Unmengen Zucker, trank schwarz.

Das letzte Mal besuchte ich ihn im Frühjahr. Ich kam spät an, es war längst dunkel. Ich trat ein, die Tür war nicht verschlossen, sie war selten verschlossen, er saß in der Küche, seine Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, er schaute zu mir auf, blieb sitzen, bedeutete mir, Platz zu nehmen, ich setzte mich. Ohne große Umschweife fragte er mich, wie das eigentlich war und ob es noch sei, betrachtete seine Hände, die immer noch gefaltet waren. Ich hielt es nicht für möglich, sagte „was?“ Ich dachte an den Sommer und den Herbst und versuchte mir in Erinnerung zu rufen, ob er golden gewesen war der Herbst und wonach er gerochen haben könnte, ich hatte keine Vorstellung mehr davon. Und das Zögern in meiner Stimme, als ob ich krank gewesen sei. Er sah jetzt unverwandt zu mir herüber. Dass ich nicht krank gewesen war, wusste er.

Der Boden in der Küche war aus grobem Gestein, sandfarben und geädert, die Maserung trat plastisch hervor, das hatte etwas Appetitliches. Irgendwann erhob er sich und zündete Kerzen an. Wir redeten über alles Mögliche oder auch nicht, wie immer. Es wurde spät, er löschte das Licht, er wolle nicht mehr ausgehen heute, sagte er. Wir liefen rauf und legten uns hin. Ich schlief lange nicht ein.

Am Morgen fiel ein blasses Licht ins Zimmer. Das Bett stand direkt unterm Fenster, sodass ich in den perlmutternen Himmel schauen konnte. Er schlief noch, sein Atem war flach, kaum hörbar. Ich öffnete das Fenster, er wurde geweckt von dem Geräusch, richtete sich auf, wirkte irgendwie präsent, so als habe er gar nicht geschlafen. Ich beobachtete ihn wie er im Bett saß. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, stand auf, zog sich an, sagte, er habe noch viel zu reparieren, lief gleich nach unten. Ich hörte die Haustür ins Schloss fallen. Sonst aß er Brot oder eine Orange, bevor er nach draußen ging, nicht viel, aber das aß er. Ich frühstückte ausgiebig, ein weiches Ei, Blätterteigtaschen, die er gebacken hatte, Nüsse, Obst. Dann räumte ich auf und spülte einen beträchtlichen Geschirrberg weg, ohne zu wissen, warum ich es eigentlich tat.

Später ging ich raus, um nach ihm zu sehen. Er lag unterm Auto, ich blieb eine Weile stehen, schließlich lief ich den Hang weiter hinauf und bog dann tiefer in den Wald ein. Es roch nach Laub und Erde, ich folgte einem schmalen Pfad.

Es war vor einem Jahr im Frühling. Wir saßen im Bett, tranken viel Wein, das Fenster stand offen, obwohl es kühl war, wir erzählten uns Geschichten, dachten uns irgendwelche fernen Orte aus, die es nicht gibt und erfanden schönklingende Namen für sie, wie Blagoeschwa oder Elenoschkaija, was so viel wie Paradies oder nie mehr endende Party bedeuten sollte. Und dann in der Frühe entstand die Idee, eine Party zu feiern, einfach so, die irgendwann beginnen und erst dann zu Ende sein würde, wenn der letzte Gast gegangen sei.

Eines Tages, ich war längst wieder zu Hause, und hatte daran schon nicht mehr gedacht, kam Post, eine Einladung für die Party. Elenoschkaija stand in der ersten Zeile und eine Zeile darunter die Bedeutung des Wortes: ein Fest, das nicht enden soll. Er ließ einen Absatz, dann folgte das Datum: letzter Samstag im Oktober bis Ende offen. Ich legte die Einladung beiseite.

Es war Hochsommer inzwischen, ich ging kaum vor die Tür, weil es zu heiß war, die schwüle Luft staute sich in der Stadt. Drinnen war es etwas erträglicher. Ich dachte an den kühlen, schattigen Hang und den Geruch nach Kernseife. Er hatte das Haus geerbt und nicht nur das, sein Vater war vor Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich lag auf dem Bett und bewegte mich so wenig wie möglich, um die Hitze besser auszuhalten.

Es schellte unerwartet. Ich blieb liegen, öffnete nicht. Eine halbe Stunde später schellte es wieder, ich ging zur Tür. Marek stand mir gegenüber, er habe gerade in der Nähe zu tun gehabt, sagte er. Ich ließ ihn herein. Wir kannten uns von einer Konzertkartenagentur, für die wir beide einmal gearbeitet hatten. Marek war schmal, blond, hatte wirres Haar. Er redete undeutlich und schnell, erzählte, dass er vor ein paar Tagen von einer längeren Reise zurückgekehrt sei, dass er im Augenblick keine Arbeit habe und in eine kleinere Wohnung ziehen werde.

Ich half ihm beim Umzug, wir schleppten nur wenige Kisten, weil Marek nicht viel besaß, Möbel schleppten wir so gut wie keine, außer einer Matratze, einer winzigen Nachtkommode und zwei Stühlen. Zum Dank lud er mich zu sich ein. Er bereitete ein Abendessen. Wir saßen auf dem Boden an einem niedrigen Tisch, den er aus Karton gebaut hatte. Er stellte Teelichter auf einen Teller, zündete sie an und servierte das Essen. Gebratene Hühnerschenkel, Reis und Ananas.

Er bot mir an, zu bleiben, ich blieb, dann blieb ich häufiger, den Sommer über und vielleicht den Herbst. Im September fand Marek wieder Arbeit, und wenn er am Abend nach Hause kam, war er so müde, dass er gleich schlafen ging. Ich blieb seltener bei ihm und irgendwann gar nicht mehr.

Es wurde rasch kühler, der Nebel legte sich jetzt beinahe jeden Tag über die Stadt und löste sich erst am Nachmittag auf. Ich genoss es, spazieren zu gehen in diesem gedämpften Licht, meine Gedanken blieben nicht lange bei mir, verloren sich irgendwo, bis er eines Tages anrief. Ich saß gerade in der Küche, goss Tee in eine große Tasse, als das Telefon klingelte. Ich erschrak ein wenig, hob nicht sogleich ab, es klingelte lange, schließlich nahm ich den Hörer. Das sei ja kaum zu glauben, begann er, ohne seinen Namen zu nennen. Ich sagte „hallo“, erkundigte mich nach seinem Wohlergehen, als er mich unterbrach und fragte, warum ich nie da sei. Ich zögerte, konnte nicht gleich antworten, sagte also nichts, sagte dann, „ich bin viel draußen im Augenblick.“ Seit mehreren Wochen, vierundzwanzig Stunden am Tag, das sei ja beachtlich, bemerkte er, seine Stimme nahm einen Tonfall an, der mir fremd war. Ich schwieg, irgendwann legte er einfach auf. Ich hielt den Hörer in der Hand, bis das Besetztzeichen kam. Dann ging ich zurück in die Küche, der Tee war kühl inzwischen.

Der dichte Nebel schluckte alles: die Farben, den Geruch, das Licht. Ich fuhr nicht zu Elenoschkaija. Plötzlich stellte ich mir das anstrengend vor, eine Party zu feiern, nach der niemand nach Hause ging.

Als sich der Herbst dem Ende neigte, wurde es schnell sehr kalt und es dauerte nicht lang, bis der erste Schnee fiel. Ich schrieb ihm einen Brief. Wenn es aufgehört hat zu schneien, werde ich dich besuchen.

Am späten Nachmittag kehrte ich zurück. Die Tür war verschlossen, ich lief ums Haus, rief seinen Namen, setzte mich schließlich auf eine Steinbank im Garten. Wenig später kam er, bemerkte mich und bedeutete, dass er noch nicht fertig sei mit der Reparatur. Er legte den Schlüssel auf die Stufen vor die Tür und ging zum Auto. Ich blieb sitzen. Wo ich gewesen sei, rief er zu mir herüber.
„Ich bin durch die Wildnis getigert“, sagte ich laut und mit einer plötzlichen Heiterkeit, die mich selbst überraschte. „Und du, wo warst du“, rief ich.
Er sei ebenfalls durch die Wildnis getigert, sagte er, allmählich näherkommend. Ich prustete los, obwohl ich das nicht wollte. Irritiert fragte er, was daran so komisch sei. Ich schwieg und stand auf.

Als er nach einer Weile in die Küche kam, fragte er, ob noch Kaffee da sei. Ich goss ihm nicht ein, rückte den Stuhl beiseite, lief durchs Haus und wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich nahm ich ein Bad und blieb so lange im Wasser, bis meine Haut völlig aufgeweicht war. Danach legte ich mich hin und schlief sofort ein.

Manchmal gab es Momente, die so waren wie früher, wir saßen zusammen und er schien das zu genießen. Ich genoss es auch, erzählte Geschichten.
Einmal fragte ich ihn, „wie lange hielt das Fest eigentlich an?“
Er sagte, dass zwei der Gäste die Einladung wohl zu wörtlich genommen haben und dass er sie nach beinahe vier Wochen herausgeworfen habe.

Auf einmal schlug die Stimmung um, er löschte das Kerzenlicht und ging rauf.

Ich dachte ab und zu an unsere Phantasienamen, die Nacht, in der wir sie erfunden haben und diese kühle, leichte Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte. Blagoeschwa, Elenoschkaija, war das eine neckische Spielerei? Was erwartete er von seiner Zurückgezogenheit in diesem einsamen Haus, irgendwo in den Wäldern, wo nichts und niemand ist? Ich hatte nie gesagt, dass ich mit ihm hier leben würde, wir haben auch nie darüber gesprochen, ich besuchte ihn, mehr nicht, vielleicht auch doch, aber nicht so.

Eines morgens, er wollte gerade zur Tür hinausgehen, versperrte ich ihm den Weg, stand dicht vor ihm.
„Was stellst du dir vor“, fragte ich. Er wich zurück und sagte, dass ich nichts begriffen habe. Dann sah er mich an, da legte sich eine fleckige Färbung um seine Wangen und ich wusste auf einmal, dass es besser war, zu gehen und nicht mehr wiederzukommen. Ich reiste ab, noch am selben Morgen, lief den Hang hinunter ins Tal, bis zum Bahnhof, löste ein Ticket und nahm den Zug, der sehr langsam durch die hügelige Landschaft fuhr, sich mehr und mehr von dem Tal entfernte und dem Hang, irgendwann allmählich das Tempo steigerte, bis er dahinraste, durch das helle Sonnenlicht und den blass blauen Himmel. Elenoschkaija. Ich atmete durch und dachte, weiterfahren.

Sommertag

Die Freibadwiese ist ein Gänseblümchenmeer. Flugzeuge zeichnen helle Linien in den Himmel.

Hannah und Marie beobachten drei Jungs, die etwas entfernt neben ihnen sitzen. Die Mädchen kichern, machen heimlich Fotos von den Jungs und schicken sie an ihre WhatsApp- Freundinnen. Die Jungs sind braungebrannt. Einer von ihnen hat ein großflächiges Tattoo auf dem Rücken.
Hannah sagt, „das sieht hässlich aus“ und kichert wieder. Marie holt die Sonnenmilch aus der Badetasche, presst sie aus der Flasche und verteilt sie gleichmäßig auf der Haut.
„Hier, du auch“, ruft sie und drückt Hannah die Flasche in die Hand.
„Kannst du mir beim Rücken helfen“, fragt Hannah. Marie cremt und massiert so lange, bis keine weißlich- milchige Stelle mehr zu sehen ist.
„Das ist ja voll Mädchen“, ruft einer der Jungs ganz unvermittelt und lacht verächtlich. Die beiden anderen grinsen und gucken. Hannah wirft die Sonnenmilch nach dem einen und fängt ebenfalls an zu lachen. Das klingt so übertrieben, dass die Jungs anfangen, sie nachzuäffen. Die Flasche fliegt zurück, sie klatscht gegen Maries Schläfe. Marie laufen die Tränen.
„Hey, du Penner, pass mal auf“, ruft Hannah.
„Willst de auf die Fresse“, ruft der eine und richtet sich auf. Die beiden anderen äffen weiter.
„Nee, will ich nicht, aber du könntest deine mal halten!“

Sie nimmt die Flasche, packt sie zurück in die Tasche und fängt an, die Decke einzurollen. Die Mädchen ziehen an einen anderen Platz.
Die WhatsApp- Freundinnen schicken Kommentare. „Sehen süß aus“ und „wie heißen die denn?“ Hannah schreibt zurück. „Sind voll Scheiße drauf.“
Marie laufen immer noch die Tränen. Hannah schnappt nach Luft und rupft Gänseblümchen aus. „Die sind wir erst mal los.“

Marie beobachtet einen gelben Hund auf kurzen Beinen, der auf sie zuläuft, an der Tasche schnüffelt und kräftig mit dem Schwanz wedelt. Marie hält ihm die Hand hin. Der Hund riecht eine Weile daran, dann rennt er weg.

Die Sonne steht hoch, es ist sehr heiß.
„Ich geh ins Wasser“, sagt Hannah. „Kommst du mit?“ Marie schüttelt den Kopf. „Keine Lust.“

Hannah steht auf, läuft zum Becken, steigt auf den Bock und landet mit einem flachen Kopfsprung im Wasser. Sie taucht zur anderen Seite und nimmt sich vor, ein paar Bahnen zu ziehen. Häufig stößt sie mit jemandem zusammen, weil es so voll ist. Sie verliert die Lust und will aussteigen, als plötzlich die drei Jungs vor ihr auftauchen und sie daran hindern. Der eine packt ihren Kopf und drückt ihn unter Wasser. Hannah schlägt wild um sich, versucht sich zu befreien. Es gelingt ihr nicht. Schließlich lässt der eine ab. Hannah keucht. Der Bademeister steht am Beckenrand, zeigt wütend auf die Jungs und brüllt.
„Wenn du das noch mal machst, schmeiß ich dich mit deinen Kumpels hier raus, verstanden?“

Hannah sieht Sternchen. Sie schafft es nur mühsam aus dem Wasser. Der Bademeister hilft ihr. Hannah hört die Jungs grölen. Sie taumelt zurück zur Decke. Marie ist eingeschlafen. Die Schläfe ist geschwollen. Die WhatsApp- Freundinnen hören nicht auf, Kommentare zu schicken, in denen sie Marie und Hannah auffordern, die Jungs zu knutschen und Party mit denen zu machen. Hannah schreibt, „hört auf mit dem Scheiß und löscht die Fotos.“ Dann schaltet sie das Handy aus.

Der Hund mit dem gelben Fell ist wieder da. Schwanzwedelnd rennt er um die Decke, bis ihn sein Herrchen zurückpfeift und an die Leine nimmt.

Der Himmel hat einen orangefarbenen Schimmer. Die hellen Linien sind weg.
Hannah überlegt, Eis am Stiel zu kaufen. Sie zählt die Münzen im Portemonnaie. Am Büdchen ist viel los. Ein Mann hinter ihr schimpft über die Verkäuferin, die nicht schneller machen kann und über die dicken Leute im Schwimmbad. Ein kleines Kind mit voller Windel wackelt beherzt mit der Mutter zur Toilette. Auf einmal entdeckt Hannah die Jungs. Behäbig schlendern sie Richtung Ausgang. Hannah versteckt sich hinter einem Betonpfeiler direkt neben ihr und beobachtet die Jungs, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Sie atmet auf. Endlich ist sie mit der Bestellung dran.

Als Hannah die Gänseblümchenwiese überquert hat und wieder bei der Decke ist, will sie Marie überraschen und legt ihr das Eis auf den Bauch. Marie rührt sich nicht. Hannah pustet ihr ins Ohr, knufft sie in die Seite, rüttelt sie. Marie bleibt ohne Regung. Hannah erschrickt, klopft Marie die Wangen, haut zu, brüllt sie an, schreit panisch, bis die Leute um sie herum aufmerksam werden und fragen, was passiert sei. Hannah versucht zu antworten, doch sie kann nicht. Sie schreit weiter. Jemand ruft den Notarzt. Der Notarzt kommt, fühlt den Puls, untersucht, legt ein Gerät an Maries Körper, das sie in die Höhe fliegen lässt. Mehrmals fliegt sie. Dann schüttelt der Arzt den Kopf. „Zu spät“. Er sagt etwas zu den Rettungssanitätern und nimmt das Gerät von Maries Körper. Die Sanitäter verschwinden kurz, kommen zurück, legen Marie auf eine Trage und schieben sie in den Krankenwagen. Mittlerweile hat sich eine Menschenmenge gebildet. Immer mehr Leute strömen hinzu. In den Gesichtern liegt eine Mischung aus Bestürzung und Neugierde. Eine Frau stellt sich direkt neben dem Krankenwagen in Pose und lässt sich von ihrem Partner fotografieren. Die Sanitäter fordern die Leute über den Lautsprecher auf, Platz zu machen. Das Blaulicht zuckt unbeteiligt.

Hinter den Hochhäusern auf der gegenüberliegenden Seite ist die Sonne bereits untergegangen. Es ist immer noch sehr heiß.