Tagebuchgedanken
Worte fallen zwischen die Zeit. Gedanken, Geschichten. Ein Jahr dreht um die Welt, vielleicht auch zwei oder drei Jahre, vielleicht auch weniger. Ein Hauch, ein Flügelschlag und schon wieder woanders, oder gar nicht, in der Mitte irgendwo, oder an den Rand geweht. Der Raum und das Fließen der Stunden. Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Tag und Nacht. Farben, Gerüche, Gefühle, Gespinste. Suchen, finden, verlieren und wieder neu erfinden. Auf die Reise machen. Wandern, laufen, fliegen, fallen. Durch ein Jahr, durch zwei Jahre, unbestimmt.
Februar
Suche das Licht, die hellen Flecken im Atelier, webe mich ein in meine Gedanken und schreibe mich in die Welt. Hinterlasse Spuren im Zimmer, im Raum, im Haus. Kein Tattoo könnte das so. Baue mir einen Stadtteil, ein Viertel, in dem ich die Wände beschrifte mit allem, was aus mir herausdrängt, was gelesen werden will. Suche nach Worten im Wind, in den treibenden Blättern, die noch aus dem vergangenen Jahr übriggeblieben sind. Schreibe mit grobem Stift, oder filigraner Feder und hänge die Sätze an einen unsichtbaren Faden. Wandere um den Erdenball und komme im Bergischen Land aus. Als warte dort noch immer das wilde Lila der Rosen, das unverstellte Blau des Himmels, die alte Konditorei mit der großen Milchglasscheibe und der Geruch nach der Arbeiterwohnung, die ich als Artistin in Residence bezogen habe.
Dann wieder finden mich die dunklen Ecken, die Gedanken und Bilder der letzten Tage. Gestern noch hat Nawalny durch das Gitter seiner Zelle in die Öffentlichkeit gesprochen. Heute werden Blumen in Moskau, Sankt Petersburg und in vielen kleineren Städten niedergelegt. In Russland schneit es.
Juli
Die Gedanken fallen ineinander. Das Jahr fliegt. Stürme und Regengüsse reißen die Zeit mit sich. Das Klima und der Wandel. Spule die Gedanken vor und zurück. Unendlich-Tape. Städtekaleidoskop. Rom, Neapel, Frankfurt, Leipzig, Wien. Nachtzug, Bahnhöfe, freundliche Schaffnerinnen und ein Kaffee im Morgenlicht.
In Russland schneit es nicht mehr. Im Südosten von Moskau ist es wieder still geworden. Heute geht niemand mehr auf die Straße. Der Widerstand spielt sich woanders ab. Im Innern einer Minderheit regt sich fortwährend etwas, eine Kraft, ein Glaube an etwas, an eine Botschaft vielleicht.
Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Geht an mir vorbei, kein Halbfinale für die Deutsche Mannschaft. Noch ein Bier und noch eins. Städtekaleidoskop, Weltenriesenrad. Köln im Sommer. Wir ziehen in die nächste Bar. Auf dem Weg dorthin duftet es nach Rosen.
Nächster Tag
Der Kopf ist müde, Raubbau an Körper und Geist. Erholen am späten Nachmittag. Spaziergang. Der Rhein, die Deutzer Brücke. Ich stehe darunter und beobachte die Skateboardfaher:innen. Donnergeräusche über mir. Zu viele Autos in der Welt. Gehe weiter, ein Basketball fliegt knapp an meinem Ohr vorbei, scharfer Luftzug. Bin zu dicht am Feld entlanggelaufen. Gestreckte Körper junger Männer recken sich nach den Körben.
Die Dämmerung bringt kühlere Luft. Vor mir fließt die Sonne silbrig-orange in die raue Oberfläche des Wassers. Rhein, wilder Strom. Bin wieder da. Remscheid, Wuppertal, Solingen, das Bergische Land. Artistin in Residence. Das ist fast ein Jahr her. Die Gedanken drehen. Black eyed Susan. Amerika, der Hudson und die Wupper. Die Wüste Kysylkum, einmal durch Usbekistan. Die Sowjetunion und ihr Zerfall. Erinnerungsfäden. Knüpfen, weben, Entfernungen rücken näher, ganz nah. Umspanne die Welt, umarme den Ball. Die Wellen schwappen ans Ufer. Ein Schiff bringt Unruhe in das Flussgeschehen.
Ein paar Tage später
Klettere in mich hinein und lasse den Tag ziehen. Wind, Wolken, letzter Duft nach Linde. Die Sommerferien haben begonnen. Im Park sind jetzt weniger Kinder, auch weniger Hunde. Eine Tischtennispartie. Vier älterer Männer spielen Doppel. Ein Bierkasten steht auf brüchigen Steinplatten in der Nähe. Zwei Joggerinnen in Zeitlupe. Halsbandsittiche, Spatzen, Tauben, Blätterversteck.
Später Schrebergärten und Häuserzeilen, vereinzelt Licht in den Fenstern. Erste Abendfärbung. Die Männer haben Zeit, noch ist es hell.
Ende August
Es riecht nach Sommer, Schwimmbad und Sehnsucht. Hole mir einen Kaffee am Kiosk und setze mich auf eine freie Bank. Fühle mich auf einmal sehr einsam zwischen den lebhaften, aufgekratzten Kindern und den jungen Eltern. Wo ist meine Kindheit geblieben, wohin meine Jugend geflossen? Eis tropft auf den Asphalt.
Vor mir liegt die weite Rasenfläche des Lentparks. Ein junger Pudel tollt über die Wiese, eine Frau wirft Stöckchen. Der Kaffee ist stark. Ein Mädchen mit Schwimmflügeln läuft im Kreis und bewegt dabei die Arme auf und ab. „Papa, ich fliege!“, ruft es mit heller Stimme.
Später werfe ich den Pappbecher in eine Tonne mit blauem Deckel und gehe ein Stück Richtung Rosengarten. Der Pudel hat sich entfernt inzwischen, er ist ein beweglicher, dunkler Fleck am Ende des Parks, die Beine der Frau sind Streichhölzer. Laufe durchs Gehölz, Äste knacken, trockene Blätter krachen. Das Blau am Himmel, noch erhitzt vom Tag, prophezeit Abkühlung.
Wohin verzweigen sich die Tage, Monate, Jahre? Wer zählt die Atemzüge? Die Sanduhr ist umgedreht. Ich höre das Sägen des feinen Sandes, der durch die Verjüngung des dünnwandigen Glases hindurch nach unten rinnt.
Als am Abend der Mond fettig gelb aufsteigt und an den gegenüberliegenden Dächern vorbeischrappt, ist es immer noch sehr warm. Ich warte auf die Prophezeiung und streue die Gedanken in die Sterne. Lege mich hin, bald findet mich der Schlaf. Dann ist das Mädchen mit den Schwimmflügeln wieder da. Lachend fliegt es um mich herum, die Beine zappeln ein wenig. „Papa, guck mal!“, ruft das Mädchen mit heller Stimme.
Im Morgengrauen ist es kühl im Zimmer. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Rosafarbenes Licht blinzelt hinter der Jalousie herein und wirft Streifen auf die Bettdecke. Einmal mit den Schwimmflügeln um die Welt, denke ich und döse wieder ein.
Zwei Tage später
Die Halsbandsittiche sind wieder da. Fliegen kreischend über mich hinweg, als ich meine Bahnen im Freibad ziehe. Hellblauer Beckengrund, weiße Lichtkreise schaukeln auf dem Wasser. Ein Mann mit silbernem Schnäuzer überholt mich, krault mit kräftigen Bewegungen an mir vorbei. Auch er zieht seine Bahnen, vereinnahmt das Becken.
Eine Weile später steige ich aus. Setze mich auf die Wiese und lasse mich trocknen. Schräg vor mir raucht jemand Kette. Daneben sitzt eine Frau, die ein Buch liest. Ich frage mich, ob die beiden zusammen gehören. Kette rauchen und Bücher lesen sind eher selten gewordene Beschäftigungen.
Ich schlendere zum Kiosk, hole mir ein Eis und stelle mich an einen Tisch. Ich lutsche und schmatze, bis das Eis aufgegessen ist. Plötzlich steht der Silberschnäuzer neben mir, prostet mir zu und nickt bekräftigend. Er hält eine Bierflasche in der Hand. Ich deute ein Lächeln an, das sich zu einer Grimmasse verzieht. Erstaunt blickt der Schnäuzer in mein Gesicht. Ich bin selbst überrascht, lege den Holzstiel in einen Aschenbecher auf dem Tisch und gehe. Ich nehme meine Klamotten, verlasse die Liegewiese. Das Buch der Frau liegt mittlerweile im Gras. Das Cover ist leuchtend rot, den Titel kann ich nicht erkennen.
Auf dem Weg zur Umkleidekabine muss ich am Kiosk vorbei. Der Schnäuzer glotzt mir hinterher. Das weiß ich, ohne hinzusehen. Die Kacheln fühlen sich glitschig an unter den Füßen. In der Kabine ist es stickig.
Im Park drehe ich mich ab und zu um. Es ist früher Abend. Blätter fallen vereinzelt auf den Weg. Ein frischer Wind zieht auf. Die Halsbandsittiche haben sich zurückgezogen. Außer mir, ein paar Jugendlichen, hier und da Eltern mit ihren Kindern, ist niemand mehr unterwegs.
Zu Hause lasse ich mich aufs Sofa plumpsen. Ich stelle mir vor, wie der Silberschnäuzer mit einer anderen quatscht, lallend nach der fünften oder sechsten Flasche Bier. Plötzlich habe ich eine Gänsehaut, obwohl die Luft steht im Raum. Ich rücke das Kissen unter meinem Kopf zurecht und mache die Augen zu. Nur für einen Moment, überlege ich. Auf dem Schreibtisch wartet noch Arbeit, die nicht vergessen werden will.
Als mir dieser unbequeme Gedanke das nächste Mal in den Sinn kommt, ist es weit nach Mitternacht. Der Mond steht riesengroß im Fenster. Sein Licht wirft verzerrte Schatten mit langen Fingern an die Wand. Es sind die Blätter der Esche im Garten.
Oktober
Vom Spätsommer in den Herbst gerutscht. Das Erlebte flüchtig, teilweise rissig, wie in einem Film, den ich vor langer Zeit gesehen habe und nun versuche, ihn in Gedanken neu zusammenzusetzen.
Ich stehe an einem Berghang mitten im Kaukasus. Blätter fallen in würdiger Geste. Wie bei uns daheim, denke ich. Die Wälder des gewaltigen Massivs auf der gegenüberliegenden Seite glühen in allen Farben. Als hätte jemand eine riesengroße Lampe angeknipst. Theaterkulisse, Gottes Schöpfung, Georgien. Gestern noch in Tiflis, heute streichele ich den Schnee auf den Gipfeln. Die Sinne fahren Karussell.
Am frühen Abend schaukelt mich ein kleiner Bus in die Ortschaft Gudauri. Die Dämmerung legt die Berge schlafen.
Ein Tag später
Straßenhunde gibt es überall in den Städten und Dörfern. Gelbe, braune, schwarzweiß gefleckte, bunte. Anhänglich, zahm. Die meisten gechipt.
Schlendere über den Markt von Kutaissi, als mir eine junge Hündin folgt und übermütig in meine Handtasche beißt. Ich halte der Hündin eine längliche Süßigkeit hin, die ich gerade gekauft habe. Die Hündin schnappt danach und läuft weg. Später sehe ich sie in einer Seitenstraße wieder. Sie hat sich hingekauert und nagt eifrig an der erworbenen Beute.
Die Süßigkeit ist eine traditionelle Spezialität und heißt Churchkhela. Nüsse werden an einer Schnur aufgereiht, mit einem Mantel aus dickem Fruchtsaft überzogen und zum Trocknen aufgehängt. Auf den Märkten und überall warten sie auf Kundschaft.
Vier Tage später
Gehe spazieren. Lentpark, Lohsepark.
In Gedanken stecke ich noch im Nebel des Großen Kaukasus. Ost und West und Süd und Nord. Mache Handstand im Innern und drehe die Welt in mich hinein, so, wie ich sie haben will. Der Bus schlingert durch die Berge, schiebt sich durch Dörfer, Städte, vorbei an kleinen Verkaufsständen mit getrocknetem Obst, Schnaps, Wein.
Blätter knistern, alle Tischtennisplatten sind belegt. Hiphop aus tausend Boxen. Beats knallen ineinander, Graswolken, ein ganz eigenes Kuckucksheim. Glücksradtaumel, Jahrmarktgefühle. Zwischen inneren Farblandschaften und der Realität. Tanz auf dem Seil und fester Boden unter den Füßen. Köln und Tiflis. Luftlinie dreieinhalb Stunden.
Kurz bevor ich die Haustür aufschließe, gehen in der Siedlung die Laternen an.